Warme Erinnerungen vergangener Musik

Ich hasste das Fliegen. Ich hasste alles daran. Die engen Sitze und die noch engeren Gepäckfächer. Den dünnen Kaffee und den zu lang gezogenen Tee. Ich hasste die trockene Luft, das ständige Brummen der Triebwerke, die unpassend freundlichen Saftschubsen, ich hasste die winzigen Toiletten und noch viel mehr hasste ich es davor warten zu müssen – wie in einem Jugendlager mit zu wenig Waschräumen. Das einzig schöne am Fliegen war das Ankommen. Der Moment, wenn man das erste Mal den Boden eines noch unbekannten Landes unter seinen Füssen spürt. Doch kaum war ich in London angekommen, sass ich schon wieder in einer Maschine. Diesmal auf dem Weg nach Dublin.

 

Irgendwo über Wales bemerkte ich den jungen Mann. Seit dem Start in Heathrow hatte er neben mir gesessen. Nun sah ich ihn zum ersten Mal an: Pilotenbrille, Drei-Tage-Bart, eine Narbe über der Oberlippe. Sein Cowboyhut lag zusammen mit seiner Lederjacke auf dem Sitz zwischen uns. Als ich den Blick hob, starrte er mich an.

«Howdy», sagte ich.

«Sie sind David Montgommery», stellte er fest und lächelte breit.

«Korrekt.» Ich nickte, hätte gerne das Gegenteil behauptet, aber ich war nun mal David Montgommery.

«James McManus», sagte er stolz und streckte mir seine kräftige, behaarte Männerhand entgegen. «Ich bin auch Musiker.»

Ich  erwiederte den Handschlag und spürte dabei die Hornhaut an seinen Fingerkuppen. Ein Gitarrenspieler.

«Business or Pleasure?», fragte mich der junge Mann, so wie mich schon die Internetseite dieser Billigairline gefragt hatte, als ich online einchecken musste. Als ob man nicht beides miteinander verbinden konnte. Business und Pleasure – zwei unvereinbare Welten. Aber vielleicht waren sie das ja. Vielleicht machte ich das alles hier schon zu lange, um beides zu haben.

 

«Ich habe einen Gig», sagte ich.

«Dublin?»

«Whelan’s, Brazen Head, Cobblestone», log ich. In Dublin hatte mich schon seit drei Jahren keiner mehr gebucht. Im Brazen Head konnte ich höchstens noch an Open-Mic-Abenden auftreten und Coverlieder singen – mit Perrücke.

«Ich war letztes Jahr mit meiner Band im Grand Social», erzählte der Mann. «Geiler Laden. Jetzt bin ich aber erstmal solo unterwegs.»

«Was ist aus der Band geworden?»

«Haben uns getrennt nachdem der Bassist durchgedreht ist. Hat einen Monitor zerlegt und mir in die Oberlippe gebissen», sagte er und zeigte auf seine Narbe.

«Warum das denn?», wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Achseln. «Hab seine Freundin gevögelt.»

 

Der Kapitän meldete sich über die Lautsprecher und kündigte den Landeanflug an. Ich schloss die Augen und überlegte, wann ich das letzte Mal jemanden gevögelt hatte. Dann musste ich an Sarah denken.

 

Am Gepäckband traf ich James McManus wieder. Er stellte seine Tasche auf den Boden und nahm seine Gitarre hervor.

«Washington Woods ist einer meiner absoluten Lieblings-Songs», sagte er und fing an meinen alten Nummer-Eins-Hit zu spielen.

 

Great Forrests where I stand still

While the wind rushes through the leaves

Rain is falling down on me

I seek cover beneath the trees

 

Er sang besser als ich. Viel besser. Er wusste es. Ich wusste es. Eine Frau in der Nähe klatschte Beifall. Ich machte eine mentale Notiz das Lied aus meinem Programm zu streichen.

«Genial», sagte er. «Ich wünschte ich könnte so schreiben wie Sie.»

Ich zuckte mit den Schultern. «Haben Sie es probiert?»

Er lachte. «Es war mir eine Ehre, Dave. Wir sehen uns im Whelan’s.» James McManus reichte mir die Hand, schulterte sein Gepäck und verschwand.

 

Draussen, in der warmen Spätsommerluft, holten mich die Erinnerungen ein. Dublin war mein Nashville, mein Mekka, aber ich war ein Pilger ohne Ziel geworden. Ein alter Satellit, der um die Welt der Musik kreiste und nur noch selten mit ihr in Kontakt trat.

 

Ich nahm den Bus nach Cork. Im Pub, in dem ich am Abend spielen sollte, trank ich ein Pint und schaute in den Spiegel hinter der Bar. Graumeliertes Haar, Falten um die Augen, zu grosse Ohren. Ich versuchte mich an meinen ersten Besuch in Irland zu erinnern, wie ich ausgesehen hatte. Aber alles was ich vor mir sah war Sarah. Ich bestellte noch ein Pint.

 

Die Sache ist die: Wenn ich auf der Bühne stehe, Nebraska Nights singe, California Cadillacs oder Mississippi Murders, denke ich an nichts anderes. Musik ist meine Therapie. Wie eine Droge, die ich schon lange spritze, die zwar ein bisschen ihrer Magie verloren hat, aber ihre Wirkung immer noch erzielt. Diese Musik ist mein Lebensinhalt, meine Familie, meine Antwort auf all die Fragen, die ich mir früher nie gestellt habe und die ich heute zu stellen fürchte.

 

Das Pub war voll. Es war zwar nicht das Whelan’s, das Publikum nicht mehr jung und attraktiv, aber die Leute an den Tischen schauten zufrieden und wippten mit den Füssen. Was wollte man mehr? Ich hatte immer noch treue Fans – sogar hier auf der grünen Insel. Ich nahm noch einen Schluck von meinem vierten Pint und stellte fest, dass ich betrunken war.

 

«Das nächste Lied geht an eine besondere Frau», hörte ich mich sagen. Immer noch – nach all den Jahren – jeden Abend ein bisschen hoffnungsloser. «Sie ist meine Göttin, die mich aus den Wellen rettet», erklärte ich dem Publikum. Aber wie sollten diese Vorstadtmenschen mit Familien und Wäschetrocknern das verstehen? Ich verstand es ja selbst kaum. «Hier ist Mermaid Dreams», rief ich und formte ein tonloses «Für Sarah».

 

Am nächsten Morgen verzerrte der Kopfschmerz meine Sicht. Für einen Moment dachte ich in einem Krankenhausbett aufgewacht zu sein. Dann erkannte ich die geschmacklose Einrichtung eines Drei-Sterne-Hotels. Früher hatte ich in kleinen B&Bs geschlafen, oder bei Freunden. Heute buchte meine Agentin Einzelzimmer im Holiday Inn, wo immer es eines gab. Mein Telefon klingelte.

 

«Sue», sagte ich mit so freundlicher Stimme, wie mein Kopfschmerz es zuliess. «Gerade hatte ich an dich denken müssen.»

Meine Agentin kam direkt zum Punkt. «Sie haben deinen Auftritt für morgen abgesagt.» Früher hatte ich diese knallharte Gangart an ihr gemocht. Nun erschien es mir unpassend distanziert. Immerhin waren wir mal ein Paar. Wenigstens ein «Guten Morgen» hielt ich da für angemessen.

«Sie sagen, du hättest ihnen auf die Bühne gekotzt.»

«Wie bitte?»

Susanna holte tief und zischend Luft, blieb dann aber stumm.

«Ich weiss gar nicht... Ich meine... Wie bitte?» Ich kramte in meiner Erinnerung, aber da war nicht viel zu finden.

«Dave», kam es aus dem Telefon. «Ich kann das nicht mehr.»

Ich hörte nicht richtig hin, suchte immer noch nach einer Erklärung. «Das Flughafensushi», begann ich.

«Ich kann dich nicht mehr repräsentieren», sagte meine Agentin. Sie klang deutlich erleichtert, sobald die Worte über ihre Lippen gekommen waren. Und ich freute mich irgendwie für sie.

«Deinen Rückflug hast du ja schon. Tut mir leid Dave. Pass auf dich auf», sagte Sue. Dann war sie weg.

 

Ich duschte, trank einen Liter Wasser, frühstückte zwei Asperin und rief mir ein Taxi. Auf dem Weg nach Schull erzählte mir der Fahrer von seiner Frau, die ein Kind erwarte. Sie wollten es Paul nennen, nach seinem Vater, der im Bürgerkrieg gestorben war. Aber sie wussten noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen werde. In Schull angekommen drückte ich dem Fahrer meine gesamte Gage vom Vorabend in die Hand. «Für Paul», sagte ich. «Ich hoffe, sie wird ein starkes Mädchen.»

 

Ich kaufte mir zwei Scones in Ellen’s Café und blicke auf das Meer hinaus. Früher hatte Sarah in einer kleinen Wohnung über dem Courtyard gelebt, wo sie als Kellnerin arbeitete. Das Pub hatte nicht mal eine richtige Bühne, aber ich habe nie wieder so ehrliche Musik gespielt wie damals. Fünf Nächte lang. Für sie. Jeden Abend sind wir nach Ladenschluss hinunter zum Strand, haben den Mond auf den Wellen tanzen sehen und den Sternen beim Verglühen zugeschaut. Dann ging sie schwimmen und als Sarah dem Wasser wieder entstieg war ich hart, noch bevor sie mich ganz erreicht hatte.

 

Im Postamt bat ich um die Adresse einer gewissen Sarah O’Mahoney. Man schickte mich über den Hügel Richtung Gubbeen-Farm, bis ich vor einem Neubau stand, den ich nicht kannte. Ein Einfamilienhaus, Kinderspielzeug in der Einfahrt, auf dem Klingeschild stand «O’Mahoney, T+S». Ich zitterte und hätte gerne ein Pint gehabt, um mich daran festzuhalten. Plötzlich ging die Tür auf. Vor mir stand ein kleiner Junge mit pechschwarzen Haaren. Vielleicht zwölf Jahre alt. Ich fing an zu rechnen – ganz automatisch.

«Oy», sagte er und blickte zu mir hoch. Ich suchte ihre Augen in seinen.

«Ist deine Mutter da?», fragte ich mit trockenem Mund.

«Mum!», rief der Junge ins Haus, sprang an mir vorbei, rannte um die Ecke Richtung Garten und war weg.

 

Sarah O’Mahoney war eine rundliche, angenehm freundliche Frau mit dunklen Haaren und kleinen Augen. Sie hatte den Nachnamen ihres Mannes Tom angenommen und war mit ihrer Familie vor rund zehn Jahren nach Schull gezogen. Bei einem Tee zeigte sie mir Fotoalben – Weihnachten, Urlaube, spielende Kinder im Garten. Eine andere Sarah gab es nicht. Weder in ihrer, noch in der Familie ihres Mannes. Nachdem ich eines meiner Best-of-Alben aus ihrem Regal signierte, stand ich im Abendwind und blickte in die untergehende Sonne.

 

Das Courtyard gab es nicht mehr. Also ging ich ein paar Häuser weiter ins Black Sheep und setzte mich an die Bar. Das Pub war voll. Es war die letzte Woche der Hochsaison. Als ich mein Pint halb leer getrunken hatte, entdeckte ich am Tresen schräg gegenüber den jungen Mann aus dem Flugzeug. Er versteckte ein blaues Auge hinter seiner Pilotenbrille, die Unterlippe aufgeplatzt. Ich nahm mein Glas und prostete ihm zu. Als er mich bemerkte, legte er die Sonnenbrille beiseite und lächelte. Oben fehlte ein Zahn.

 

«Dave!», rief er lauf über den Tresen hinweg. «Alle mal herhören, das ist David Montgommery.» Ein paar Köpfe drehten sich und nickten mir freundlich zu. James McManus kam herüber und reichte mir die Hand. Ich freute mich tatsächlich ihn zu sehen. Mit blauem Auge und allem.

«Sie sollten mal den anderen sehen», sagte er fröhlich.

«Was ist denn passiert?»

«Ach, kleiner Streit unter Musikerkollegen.» McManus bestellte noch zwei Pints.

«Haben sie wieder seine Freundin gevögelt?»

Sein Blick verfinsterte sich für einen kurzen Moment. Dann trank er sein Guinness aus und als er fertig war, lächelte er wieder.

«Lass und nicht von der Vergangenheit reden. Die Zukunft ist viel zu spannend. Machen wir Musik!»

 

Und das machten wir. Im Black Sheep wurde eine Ecke frei Geräumt und auf zwei Barhockern spielten James und ich uns durch die Musikgeschichte von Rock, Blues und Country. Die Gäste im Pub sassen längst nicht mehr an ihren Tischen, tanzten, klatschten und sangen unsere Lieder. Und auch wenn James McManus trotz aufgeplatzter Unterlippe besser sang als ich, genoss ich den Moment wie schon seit Jahren nicht mehr.

 

Als wir fertig waren, verschwitzt, ausser Atem, aber vibrierend vor Energie, setzten wir uns an einen Tisch und tranken Pints mit den verbliebenen Gästen. Ich erzählte Geschichten von meinen Reisen, wie ich in Kanada einem Wolf begegnet war und später das Lied «Canadien Carnivores» schriebt. Ich erzählte von Afghanistan, wo ich einst vor den Truppen spielte und sogar James McManus hielt für einmal den Mund, lauschte einfach meinen Erzählungen. Ich war glücklich.

 

Irgendwann sassen James und ich alleine vor unseren Gläsern und schwelgten in Erinnerungen.

«Jetzt haben wir doch über die Vergangenheit geredet», sagte ich.

«Er hat meine Freundin gevögelt», sagte James. Er deutete auf sein blaues Auge.

«Das tut mir leid», sagte ich.

«Naja, eigentlich hat sie ihn gevögelt.» James McManus trank sein Glas leer, stand auf und verschwand Richtung Toilette.

 

«Ist da noch frei?», fragte eine Frau und setzte sich zu mir an den Tisch. Ich blickte auf, sah sie an, sie lächelte.