Was würde Harry Potter tun?

Harry Potter, schoss es mir durch den Kopf. Harry Potter, der ist doch in seinem Traum auch immer vor einer verschlossenen Tür gestanden. Ich kratzte mich am unrasierten Kinn. Der alte Friseursalon war dicht. Tür zu, Gitter vor, aus die Maus. Ende im Gelände. Schicht im Schacht. Hier komme ich nicht rein, dachte ich. Was würde Harry Potter tun? Ich rief Holger an.

"Holger, du der Friseur hat zu."

"Nee", sagte Holger.

"Ja, wenn ich's dir doch sage."

"Nee", sagte Holger wieder. "Der hat doch immer offen sonst."

"Ja, naja, heute nicht."

"Nee", sagte Holger. "Echt jetzt?"

"Holger, ich steh doch hier davor. Der Laden ist dicht wie du nach achtzehn Bier."

"Welcher Laden, denn?", fragte Holger.

"Na, der Friseursalon. Da ist die Tür zu und ein Gitter vor."

"Ein Gitter?", fragte Holger.

"Ein Gitter."

"Wusste gar nicht, dass die ein Gitter haben."

"Jo, ist aber davor jetzt."

"Nee", sagte Holger wieder, aber diesmal anders. "Das ist ja blöd. Und jetzt?"

"Ja, weiß auch nicht. Kann man nix machen, denke ich."

"Nee. Da kann man nix machen", bestätigte Holger.

Wir schwiegen zufrieden über den gefundenen Konsens.

"Du Holger?"

"Was denn?"

"Was würde Harry Potter tun?"

"Wie bitte?"

"Was würde Harry Potter tun? Also, wenn er vor einer verschlossenen Tür stünde. So mit Gitter und so?"

"Puh...", machte Holger und kratze sich hörbar am noch unrasierteren Kinn. "Alohomora?"

"Hm...", machte ich. "Stimmt."

"Du ich muss", sagte Holger und legte auf.

 

Alohomora, dachte ich. Wer rasiert mir denn jetzt meinen Bart? Ich rief Franzi an.

 

"Franzi, du der Friseur ist zu."

"Na, ist doch klar", sagte Franzi.

"Wie, warum ist das klar?"

"Der ist gestorben. Das stand sogar in der Zeitung."

"Wie, welche Zeitung denn?"

"Na, die regionale Zeitung natürlich. Stand bei den Todesanzeigen", sagte Franzi.

"Au backe", konstatierte ich. "Und jetzt?"

"Na, jetzt ist der tot", sagte Franzi. "Da kann man nix machen."

"Nee, da kann man nix machen", sagte ich.

Wieder drückte sich die übereinstimmende Meinung in klangvoller Stille aus.

"Du, Franzi? Was würde Harry Potter tun?"

"Harry Potter?", fragte Franzi.

"Ja, Harry Potter."

"Warum denn Harry Potter?"

"Na, der kennt sich doch aus mit Türen, irgendwie."

"Hm...", machte Franzi und überlegte. "Alohomora?"

"Hat Holger auch gesagt", erzählte ich. "Und wer rasiert mir jetzt meinen Bart?"

"Puh...", machte Franzi. "Weiß nicht, aber ich muss jetzt leider los. Tschüss", sagte sie und verschwand aus der Leitung. Ich seufzte schwer. Eigentlich war der Tag völlig verloren, wenn mir heute keiner den Bart schneiden würde. Das Problem hatte Harry Potter nie, dachte ich neidisch. Mein Blick fiel auf einen kleinen Stock, der auf dem Gehweg lag. Ich schaute mich kurz um und hob ihn dann schnell auf. Etwas zögerlich deutete ich mit dem Stück Holz auf die Gittertür. "Alohomora", murmelte ich. Nichts geschah. "Alohomora, verdammt noch mal", sagte ich etwas lauter. Wieder nichts. "Scheiße." Ich versicherte mich nochmal, dass ich hier auch wirklich alleine war. Dann schwang ich den Holzstab einen Halbmond beschreibend über meinem Kopf und rief die Worte lustvoll aus. "Alohomora!"

 

"Guter Mann", ertönte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich erschrocken um. "Ich glaube das wird so nichts." Ein junger Mann stand vor mir und hielt mir einen Schlüsselbund entgegen. "Damit sollte es allerdings klappen", sagte er, ging an mir vorbei und öffnete Gitter und Tür. "Sie wollen sich also den Bart schneiden lassen?", fragte er.

"Äh... ja. Woher...?"

"Mein Vater hat mir von Ihnen erzählt", sagte der Mann.

"Ihr Vater, echt jetzt?"

"Sehr richtig." Der Mann trat in den Friseursalon ein. "Bevor er von uns gegangen ist."

"Au Backe, ja, das ist dumm gelaufen", sagte ich und folgte ihm in den Laden.

Der Mann lachte. "Naja, er war sehr alt", sagte er.

"Nee", sagte ich. "So alt war der doch gar nicht."

"Doch doch, glauben sie mir. Auf seine Art war er sehr alt." Der junge Mann bereitete einen Stuhl vor und bedeutete mir, mich zu setzten.

"Und sie schmeißen jetzt hier den Laden?", fragte ich.

"Ja, vorläufig."

"Ach, und können sie das auch. Also Bart schneiden und so?"

Wieder lachte der Mann und ich wunderte mich, dass ihn meine Fragen so belustigten.

"Na schauen mir mal", sagte er und band mir das Schutztuch um. Dann pinselte er mich mit dem Rasierschaum ein und begann mit der Klinge über die Stoppeln zu fahren.

"Und was hat ihr Vater so über mich erzählt?", fragte ich.

"Dass sie eine Katze haben."

"Jo, das stimmt."

"Dass sie Fußball mögen."

"Ja klar, wer nicht?"

"Dass sie im Sommer gerne in den Süden fahren, aber im Winter lieber zu Hause bleiben."

"Ach, das hat er sich gemerkt. Nee, war ein feiner Mensch ihr Vater. Schade dass er jetzt tot ist."

"Danke", sagte der Mann.

"Aber da kann man nix machen", sagte ich und schüttelte den Kopf.

Ich spürte einen kleinen Schnitt am Hals. "Oh das... jetzt hab ich... sie bluten ein wenig... das tut mir leid", sagte der junge Mann.

"Ach was", sagte ich. "Da kann man nix machen."

Ein kurzes, scharfes Klickgeräusch war zu hören. Dann beugte sich der Mann plötzlich vor und zwei spitze Zähne bohrten sich in meinen Hals. Bevor ich noch erschrocken fragen konnte, was er da eigentlich vor hatte, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen. Harry Potter, dachte ich noch. Was würde Harry Potter jetzt tun?