Senap singt

Senap, 25, schwarze glatte Haare, ein kleiner silberner Ring im rechten Nasenflügel, legte die Schürze in den Wäschekorb. Feierabend. Samstags durfte sie früher gehen. Das hatte sie so mit ihren Eltern ausgehandelt, als sie im Familienbetrieb anfing zu kellnern. Nach einem wenig inspirierenden Soziologiestudium und zwei unglücklichen Jahren in einem Reisebüro wollte sie im Restaurant ihrer Eltern eigentlich nur ein bisschen Geld verdienen. Jetzt war sie bald ein Jahr da und hatte sich irgendwie an die Arbeit gewöhnt. Im Restaurant fühlte sie sich wohl. Dort hatte sie ihre halbe Kindheit verbracht. Mittag gegessen, Hausaufgaben gemacht, in der Ecke mit der alten türkischen Teekanne ihres Grossvaters gespielt, der vor dreiundvierzig Jahren mit Frau und Kindern aus seiner Heimat ausgewandert war. In der Küche hing noch ein Bild von Senap mit ihren Grosseltern. Sie lacht, Grübchen graben sich in ihr Gesicht, ihr schwarzes Haar noch kurz und ungekämmt.

 

Ihr Grossvater war gestorben. Ihre Grossmutter kurz davor. Senaps Haar war nun länger, in einem Pferdeschwanz versteckt, Grübchen hatte sie immer noch, aber sie lachte nur noch selten.

 

Unter der Woche musste Senap abends oft servieren. Aber samstags hatte sie frei. Dann ging sie mit ihren Freundinnen aus. Karaoke singen. Wenn Senap mutig war, ging sie alleine. Und wenn sie ganz mutig war, ging sie ins Rox, wo samstags hinter der Bar der schöne Patrick stand. Dann lehnte sie sich weit über den dunklen Tresen, wobei sie immer ein bisschen auf die Zehenspitzen gehen musste, und bestellte Vodka Lemon. Nach dem zweiten Glas ging sie singen. Amy Winehouse, Rihanna, sowas. Sie mochte am Singen, dass ihre Stimme viel lauter war, als wenn sie sprach. Lauter und tiefer, so richtig aus der Seele kam. Dann stand sie da, auf der Bühne im Rox, niemand im Publikum, der sie kannte. Und wenn die Musik erklang, schloss Senap die Augen, dachte an den schönen Patrick und sang.